AMERIKA-TOURNEE IM JAHR 1925

Der Leichtathletikverband der USA war schon im November 1922 daran interessiert, Paavo Nurmi zu Rennen auf dem neuen Kontinent einzuladen. Nurmis Ausbildung auf der Industrieschule in Helsinki sowie die Vorbereitungen auf die Olympiade in Paris verhinderten die Reise für zwei Jahre. Nach seinen Pariser Olympiaerfolgen war er noch mehr unter den amerikanischen Wettkampfveranstaltern begehrt. Im November 1924 ging Nurmi mit seinem Masseur Eino Hakoniemi in Hanko an Bord des Schiffes Arcturus. Die Reise führte über die bekannte Emigranten-Route Kopenhagen, Hull und Liverpool nach New York. Die Trainingmöglichkeiten waren auf den Schiffen nicht besonders geeignet. Nurmi beschrieb seine Reise für die Weihnachtsausgabe 1925 der Arbeitersport-Zeitschrift folgendermaßen: “Ich trainierte täglich auf dem Schiff. Eigentlich nachts bei schlechter Beleuchtung, denn während des Tages scheute ich mich und im Morgengrauen traute ich mich beim Aufstehen der Stewards nicht.” Das Schiff Celtic erreichte New York am 10. Dezember, und den Meisterläufer nahm eine mehrere hundertköpfige Menge amerikanischer Finnen in Empfang. Der offizielle Empfang fand im Rathaus statt, wo der New Yorker Bürgermeister dem Ehrengast den Stadtschlüssel überreichte.

AUF DEN HALLENBAHNEN DICHTER RAUCH UND HÖLLISCHES GESCHREI

Nurmi wohnte zunächst bei seinem Gastgeber, dem Vorsitzenden des amerikanisch-finnischen Sportvereins FAAC Hugo Qvist. Er zog aber schnell an den Stadtrand, weil sich in der Wohnung immer Dutzende von Interviewern und begeisterten Fans befanden. Nurmi begann eine strenge Trainingsphase, um die kommende Wettkampftournee durchzustehen: zuerst 2½ Wochen Außentraining und dann Anpassung an Hallenbahnen.

Der erste Wettkampf fand am 6. Januar 1925 im legendären Madison Square Garden statt. Die Arena war schnell ausverkauft, als sich die Nachricht vom Eröffnungswettkampf in der Öffentlichkeit verbreitete. Nurmi hielt die elastische 160-Yard-Bahn (140 m) des Garden für Amerikas schnellste, und er stellte fest, dass die Tabak geschwängerte Luft den Körper belebte. Das Programm von Nurmis Eröffnungsrennen erinnerte an die Meisterleistung des vergangenen Sommers – innerhalb einer Stunde eine Meile und 5000 Meter. Über die Meile sah es so aus, dass die besten Männer der USA, Joie Ray und Lloyd Hahn, den Finnen, der “anfangs nicht mit der Resonanz der federnden Bahn klar kam”, überraschen würden, aber Nurmi holte die Ausreißer wieder ein und lief die Meile in neuer Weltrekordzeit 4.13,5. Der Beginn des 5000-Meter-Lauf verzögerte sich etwas wegen der begeisterten Fotografen, die Nurmi und seinen härtesten Mitstreiter Ville Ritola umringten. Ritola machte das Tempo in dem Rennen, aber 200 Meter vor dem Ziel setzte Nurmi zum Spurt an, und die Uhren stoppten 14.44,6 – wieder ein neuer Weltrekord!

ÜBER 50 000 REISEKILOMETER!

Nurmi wollte eigentlich nicht den ganzen Winter in den Vereinigten Staaten bleiben, aber nach der glänzenden Premiere wollte man ihn in allen Teilen des Landes sehen. Nurmi lief insgesamt 55 Wettbewerbe und darüber hinaus zwischen den Wettkämpfen Schauläufe an Schulen, Universitäten und in Kasernen. Das anstrengendste an der Tournee waren nicht die Rennen, sondern das Reisen und Repräsentieren. In den 1920er Jahren reiste man nicht per Flugzeug, sondern mit dem Zug oder einem Bus. Nurmis Tournee reichte von Küste zu Küste, von Boston nach San Francisco, es reichte sogar für zwei Besuche in Kanada. Insgesamt reiste Nurmi über 50 000 Kilometer. Da die Hallenwettbewerbe sehr spät begannen und die Hauptattraktion des Abends, Nurmi, erst gegen Mitternacht lief, kam der Held erst gegen ein oder zwei Uhr in der Nacht ins Bett. Die Bedingungen berücksichtigend waren Nurmis Resultate beeindruckend: 55 Läufe (45 in der Halle und 10 draußen), davon 51 Siege, drei zweite Plätze (von denen zwei unentschieden waren) und ein Abbruch wegen einer Injektion. Er verbesserte insgesamt 12 Mal Hallenweltrekorde auf offiziellen Strecken sowie zahlreiche Rekorde auf inoffiziellen Strecken. Seinen letzten Wettkampf bestritt Nurmi am 26. Mai im New Yorker Yankee Stadion, bei dem er beim 880-Yards-Lauf dem schnellsten Läufer des Kontinents über eine halbe Meile den Vortritt ließ – aus Höflichkeit, wie man in einem Zeitungskommentar feststellte.

WARUM WAR AMERIKA SO BEGEISTERT?

Warum wurde über die Amerika-Tournee Nurmis so viel geschrieben und gesprochen? Wie vermochte der stille und introvertierte ‘Phantom Finn’ die Herzen der Amerikaner in den wilden 20er Jahren erobern, als Charleston, Jazz und Kabarett die Menschen begeisterten? Zumindest hatte Nurmi nicht selbst die Öffentlichkeit gesucht, denn wie es seine Art war, hatte er nicht ein einziges Interview während der Reise gegeben. Es ist verständlich, dass Nurmi nach seiner Rückkehr nach Finnland vom Finnischen Präsidenten Lauri Kristian Relander mit seiner Mutter auf die Sommerresidenz Kultaranta in Naantali eingeladen wurde, wo ihm der Finnische Orden der Weißen Rose, Ritter I. Klasse, übereicht wurde, aber warum wollte auch der Präsident der Vereinigten Staaten, Calvin Coolidge, Nurmi treffen?

Die New York Times schrieb von Januar bis März über 70 Nachrichten zu Nurmi und seine Vorhaben, und die kleinen Zeitungen folgten diesem Beispiel. Das Trommeln der Zeitungen war sicherlich einer der Gründe für die große Beliebtheit, wie Nurmi selbst feststellte: “Zeitungen sind in aller Hände, aber man liest nur die Sportnachrichten und danach wird sie weggeschmissen”. Als Nurmi im Winter 1929 eine weitere Tournee durch Amerika unternahm, war die Aufregung wieder ziemlich groß, aber auf ein ähnliches Wettkampfkarusell wie 1925 ließ er sich nicht mehr ein. Paavo Nurmi besuchte die Vereinigten Staaten viele Male bis in die 60er Jahre, und er war immer ein gern gesehener Gast bei den Festen amerikanischer Berühmtheiten.